Und Morgen Wach Ich Auf

Am Brunnenboden

 

 

Teil 1: Das Ei

 

Es ist schon etwas ironisch, den eigenen Eltern den Wert ihrer Forschung und ihres Doktortitels an einem gewöhnlichen Ei zu demonstrieren. Das braune Ei, Größe M, saß roh im Eierbecher in der Mitte des Küchentisches. Emilia wurde warm ums Herz, wenn sie den Eierbecher sah, der die Form eines verdutzt blickenden Schäfchens hatte. Dieser Eierbecher hatte sie mal ihr ganzes Leben begleitet, doch nun hatte sie ihn schon jahrelang nicht mehr gesehen.

“Dann zeig uns mal, was die Amis dir beigebracht haben”, sagte Emilias Vater Bernd aufgeregt.

Sie sagte nichts dazu, dass das hier ihre Forschung war und ihr das so eigentlich niemand beigebracht hatte. Sie lächelte einfach.

Emilia stellte den Scanner, der auf einem Rollwagen neben dem Küchentisch stand, auf die Entfernung des Eis ein. Das hier war die mobile Version und trotzdem war er größer als eine Waschmaschine.

“Und können wir gleich das Innere des Eis sehen?“, fragte ihre Mutter Petra.

“Ja, das auch, jede Schicht vom Ei. Von der Oberfläche bis in den Kern.”

“Also wie ein Röntgengerät?”, fragte ihre Mutter nach.

Emilia seufzte kaum hörbar.

“Seht einfach selbst.”

Der Scanner war hochgefahren und surrte leise. Emilias Eltern standen vom Tisch auf, während sie zur Seite ging und in der kleinen Küche Platz ließ, damit sie auf den Monitor sehen konnten.

Darauf zu sehen war das Ei, exakt in der Mitte durchgeschnitten. Es sah genau so aus, als hätte man es mit einem sehr scharfen Messer einfach vertikal halbiert. Der Scan war in Farbe, sogar die Schatten der Blumenvase auf dem Fensterbrett der Küche fielen passend auf den Querschnitt des Eis.

“Wow”, sagte ihre Mutter leise.

Sie blickten hin und her – vom durchgeschnittenen Ei auf dem Bildschirm, zum völlig intakten Ei auf dem Tisch.

“Das ist ja toll!”, rief ihr Vater, umso lauter.

Emilia lächelte.

“Dreht mal an dem Rädchen”, sagte sie aufgeregt.

Ihr Vater griff sofort nach dem roten Rad, das seitlich neben dem Monitor angebracht war.

In dem Moment, als er es drehte, verschob sich der Querschnitt des Eis. Man sah nur noch ein Drittel des Eis, dann nur noch ein Viertel, dann war es völlig unsichtbar.

“Wo ist das Ei hin?”, fragte ihre Mutter.

Sie blickte auf den Tisch.

Dort stand das Ei, unversehrt.

Während ihr Vater mit dem Regler und dem Zoom-Faktor noch weiter spielte, versuchte sie, die Technik hinter dem Scanner so einfach wie möglich zu erklären.

Was sie auf dem Monitor sahen, war keine Kameraaufnahme des Eis und der Küche, es war ein 3D-Modell der gesamten Umgebung. Über verschiedene Sensoren und Strahlungsmesser wurde alles vor dem Scanner durchleuchtet, analysiert und dann in 3D auf dem Monitor simuliert.

“Ihr könnt damit durch alles durchgucken. Ihr könnt Briefe lesen, die noch im Briefumschlag sind. Ein Arzt kann in deine Arterien sehen, ohne dich aufzuschneiden. Befruchtest du dieses Ei und legst es unter eine Rotlichtlampe, dann kannst du zusehen, wie das Küken wächst, ohne ihm zu schaden”, erklärte Emilia.

Sie verbrachte noch drei Stunden mit ihren Eltern, die langsam verstanden, wieso ihre Tochter und ihre Kollegen dafür laut Fachkreisen schon einen Nobelpreis sicher hätten. Besonders die Medizin revolutionierte das völlig. 

Ihre Mutter hielt sich vorsichtig immer hinter dem Scanner auf, weil sie Angst vor gefährlicher Strahlung hatte, dabei war das Gerät absolut sicher.

Ihr Vater war völlig begeistert.

Er legte Früchte, Briefe, mit Alufolie umwickelte Nüsse, Bonbons und sogar seinen eigenen Fuß vor den Scanner, um das Innenleben zu sehen.

“Unglaublich”, sagte er staunend, während er beobachtete, wie das Blut durch die Venen und Arterien seines Fußes gepumpt wurde, dessen Querschnitt er betrachtete.

Es war der schönste Sonntagnachmittag für Emilia seit langem. Natürlich wussten ihre Eltern nicht, wie diese Technologie funktionierte, das wussten ganz genau nur wenige Spezialisten. Sie wussten auch nicht, wie viele schlaflose Nächte, wie viel Schweiß, Tränen und Zusammenbrüche nur der erste Prototyp gekostet hatte.

Aber sie waren wirklich stolz auf ihre Tochter.

“Schade, dass du schon wieder weg musst, aber immerhin nicht so weit”, sagte Petra und umarmte Emilia.

“Dafür aber tief! Geht ihr wirklich bis auf den Brunnenboden?”, fragte ihr Vater. Er blickte besorgt.

Sein kleines Mädchen an einem so lebensfeindlichen Ort.

“Ja, so weit wie es geht. Es ist eine Ehre, dabei zu sein. Ich meine, es ist das größte Forschungsprojekt der Welt, hier bei uns, in Norddeutschland”, antwortete sie.

Ihr Vater wollte sie auch nochmal drücken.

“Naja, so halb, irgendwo in der Nordsee”, sagte er.

“Vor Helgoland. Die Insel würdet ihr jetzt nicht mehr wiedererkennen”, antwortete Emilia, während sie ihren Vater drückte.

Emilia hatte schon angefangen, ihre Sachen wieder einzupacken.

“Ich will nochmal das Ei sehen!”, sagte ihr Vater dann.

Während Emilia packte, zoomte er immer weiter auf die Oberfläche des Eis, am Querschnitt war er gar nicht interessiert. Er benutzte den Scanner nun wie eine riesige Lupe.

“Was ist das? Ist das ein Insekt?”, fragte er kurz darauf.

Emilia lief zum Monitor.

Zu sehen war ein kapsel‑förmiges, haariges Etwas.

“Oh, nein, aber eigentlich kennst du es. Das da ist “Salmonella enterica”, ein Salmonellen-Bakterium.”

 

Teil 2: Der Brunnen

 

Laut dröhnten die Motoren des Krans, der ihr U-Boot in den Brunnen herabließ. Etwa 60 Meter trennten sie noch von der blubbernden, warmen Wasseroberfläche. 

Im Inneren des U-Bootes stand Emilia, die sich mit ihrem schlanken Wuchs vorsichtig an das Geländer lehnte. Dahinter trennte eine meterdicke Glasscheibe sie von der Außenwelt.

Sie betrachtete das Bauwerk, in das sie hinabgelassen wurde. Das Größte, was die Deutschen jemals gebaut hatten. Mit einem Durchmesser von 100 Kilometern umringten die hunderte Meter dicken Mauern ihr eigenes kleines Meer, das vor der Küste Helgolands die Nordsee durchschnitt.

“Mauern bauen, das können die Deutschen”, hatte man überall lesen können, während dieses wahnwitzige Projekt umgesetzt wurde.

Emilia konnte es immer noch nicht fassen. In diesem Moment war sie eine Besucherin aus einer anderen Welt, beeindruckt und ein wenig eingeschüchtert von der gigantischen Struktur vor ihr. Am Rande ihres Blickfeldes konnte sie Helgoland ausmachen und den gigantischen neuen Hafen, der deutlich größer war als die Insel selbst. Hoch wie eine Möwe hingen sie.

Sie nahm ihre Sonnenbrille ab und kniff die Augen zusammen. Die Sonne, die auf dem Brunnenwasser reflektierte, blendete sie. Doch einen Augenblick später waren sie tief genug und der Schatten vom Brunnenrand fiel über die Metallkugel, in der sie stand. “HEROLD II”, war der Name ihres sphärischen U-Bootes, das wie ein Golfball aus Stahl an einem Faden in den Brunnen herabgelassen wurde. 

Sie fuhr mit ihrer Hand durch ihr schwarzes Haar.

Wie hatte man es geschafft, so etwas zu bauen? Ein Loch in der Welt, gefüllt mit salzigem, warmem Wasser. Das weltgrößte Kraftwerk für Geothermie, hier vor Helgoland. Emilia beobachtete, wie eine Möwe auf dem Rand des Brunnens landete. Winzig war sie, so weit weg – nicht mehr als ein Punkt am Horizont.

 

Man hatte früher gesagt, die chinesische Mauer könne man mit bloßem Auge vom All aus sehen. Das war jedoch nichts weiter als ein Mythos. Den Brunnen aber, den sah man. Wie ein Meteoritenkrater an Deutschlands Ufer.

Der Bau des “Brunnens” wie er im Volksmund genannt wurde, war lange umstritten gewesen. Hauptsächlich lag das daran, dass niemand genau verstand, wie er überhaupt funktionierte. Zuerst würde man denken, dass Tiefseevulkane oder Spalten in der Erdkruste das Wasser erwärmten, doch es war viel komplizierter als das.

Eine bisher unbekannte Substanz, vielleicht sogar ein neuer Aggregatzustand, erwärmte das Wasser an dieser Stelle ungeheuer schnell. Geothermische Aktivität hatte man an dieser Stelle schon lange vermutet, jedoch hatten mehrere Seebeben in den Jahren vor Baubeginn die Wassertemperaturen enorm ansteigen lassen.

Ein Schatten verschlang das U-Boot.

Emilia ging von der Scheibe zurück zu ihrem Sitz. Der schöne Ausblick war vorbei, von nun an waren sie im dunklen Krater des Brunnens, kilometerweit entfernt vom nächsten Rand.

Herabgelassen wurden sie von einem Kran, der fest montiert in der Mitte des Brunnenmeeres stand, auf einem kleinen Atoll, auch Klein-Helgoland genannt.

Die Wasseroberfläche wurde konstant vom Nebel des warmen Wassers umhüllt, was die Schifffahrt sehr einschränkte. Deshalb war die einzige, stark kontrollierte Route in die Brunnenmitte diejenige, die nach Klein-Helgoland führte.

Ein paar Arbeiter konnte man auf den Geländern in weiter Ferne ausmachen – sie schienen so groß wie Ameisen zu sein.
Emilia war sich noch nie so winzig vorgekommen.
Durch jedes Kabel in Norddeutschland floss Helgolands Brunnenstrom. Tausende Turbinen befanden sich unter Emilia, die sich unentwegt drehten, in den Gezeiten des aufgeheizten Wassers, das vom Brunnenboden nach oben drang. Der Dampf, der sich auf der Oberfläche bildete, wurde von riesigen Windkanälen durch gekühlte Tunnel in der Brunnenwand geleitet, wo der Rest der Energie durch Wärmetauscher in Strom umgewandelt wurde.

Einerseits war der Brunnen eine Quelle unerschöpflicher Energie, andererseits machte er nochmal deutlich, welche ungeheure Macht unter der Erdkruste schlummert. 

Kaum zu glauben, dass Emilia eine der wenigen war, die die Wahrheit kannten. 

Nun ja, zumindest eine ungefähre Vorstellung davon.

Und dass sie gerade hinabstiegen.

 

Mit einem dumpfen Platschen und einem Ruckeln traf die “HEROLD II” auf die Wasseroberfläche.

“Läuft mir jedes Mal wieder kalt den Rücken runter”, sagte der Informatiker Mario Kampmann neben ihr, der seine Finger um die Armlehne presste. Er war eine dünne, blasse Gestalt mit lichtem Haar.

“Mir gerade auch”, sagte Emilia, den Brunnenrand über ihnen nicht aus den Augen lassend. Der Himmel blickte wie ein großes blaues Auge auf sie herab.

“Geht hier allen so. Das Ding steht nicht mal 20 Jahre und trotzdem fühlt es sich irgendwie … alt an.”

Emilia nickte.

“Als würde man eine Ruine betreten.”

 

Teil 3: Sinken

 

Als wäre dies ihr stählerner Sarg, begann die HEROLD II einfach zu sinken. Es würde noch lange dauern, bis sie den Brunnenboden erreichen würden.

Das Licht der Sonne war schnell verschwunden, verschluckt vom warmen Meer, und durch die Frontscheiben war nichts als Dunkelheit auszumachen.

 

Doktor Joachim Falk, Leiter der Operation, der bislang seelenruhig vorn am Kontrollpult neben dem Kapitän gesessen hatte, drehte seinen Stuhl um 180 Grad hin zur kleinen Mannschaft. Wie in einem Klassenzimmer saßen sie ihm in Reihen entgegen. Die Mannschaft bestand aus dem Kapitän Georg Messner, dem leitenden Wissenschaftler Falk, der Wissenschaftsexpertin für BRANT-Seismografie Emilia Busch, dem leitenden Techniker Mario Kampmann, sowie vier weiteren Technikern und drei Soldaten der Marine.

 

“Sie sehen angespannt aus”, sagte Falk bestimmt.

Seine hellblauen Augen schienen im Neonlicht der U-Boot Leuchten zu glühen. Seine Haut spannte sich straff über seinen Schädel. Emilia erinnerte er an eine menschliche Eidechse, die ein Problem mit dem Kettenrauchen hatte. Und da hier unten nicht geraucht werden durfte, ahnte sie, dass die Stimmung schnell kippen konnte.

 

“Dann sagen sie doch mal, waren sie bereits tiefer als 10 Kilometer?”, fragte Falk laut.

 

Für Emilia war es der erste Abstieg in den Brunnen. 

Sie schauderte vor der Zusammenarbeit mit Falk. Er hatte bereits jetzt etwas furchtbar Autoritäres an sich.

Ein paar schüttelten den Kopf, niemand nickte.

“Dann haben sie ja noch nie das Leuchten gesehen?”, fragte er, als spräche er mit Vorschulkindern.

 

Sie schüttelten erneut den Kopf. Emilia wusste natürlich schon von den Daten der vorigen Mission, was es mit dem Leuchten auf sich hatte.

 

Der Druck auf ihren Ohren wuchs. 

Emilia hielt sich ihre Nase zu und presste Luft dagegen, um den Druck auszugleichen.

Das kugelförmige U-Boot würde ihre Sinkgeschwindigkeit umgehend anpassen, um den Innendruck auszugleichen. Normalerweise würden sie nach einem Bruchteil der Entfernung unter Wasser zu einem winzigen Ball aus Stahl, Blut und Knochensplittern zusammengepresst werden. 

 

Aber worin auch immer sie hier sanken: Es war kein Wasser. Dieser Fakt war der Öffentlichkeit theoretisch bekannt, jedoch interessierte es niemanden wirklich.

“Salzwasser ist auch Wasser, also wenn da ein paar andere Materialien drin gelöst sind, wen interessiert’s?”, hatte ihr Vater gesagt.

 

Emilia fixierte die Frontscheibe, während Falk ihr und den anderen irgendeinen Vortrag hielt. Immer wieder sah sie den einen oder anderen weißen Punkt am Fenster vorbeihuschen, wie Sterne am Nachthimmel. Sie schwammen in einer Lösung aus Wasser und unbekannten Stoffen, die vom Brunnenboden aufstiegen. Und diese Lösung glich ihren Druck auf schier magische Weise selbst aus. Nach einer Tiefe von etwa 600 Metern würde der Druck nur noch minimal ansteigen, unmerklich und für die Mission irrelevant. Das war mitunter der Hauptgrund, wieso sie hier waren. Sie mussten verstehen, wie das funktioniert. Es könnte die Physik für immer verändern.

 

Auf einmal standen Kampmann und die anderen auf.

“Hallo, Frau Schmidt, hören Sie mich?”, kam es genervt von Falk.

“Ja, Entschuldigung, natürlich, Professor.”

Falk fuhr sich durch die wasserstoffblonden Haare, ohne Emilia aus den Augen zu lassen.

“Ab in die Schlafkabine mit ihnen, für die nächsten 40 Stunden gibt’s hier nichts mehr zu sehen”, kommandierte er.

“Natürlich”, antwortete Emilia, die Zähne zusammengebissen.

Falks Augen fixierten sie, ehe er sich umdrehte und den Besprechungsraum verließ.

Auf ihrem Weg in ihre Nische hörte sie Falk noch etwas Unverständliches murmeln. 

 

Die Herold II war nicht sonderlich groß, verglichen mit den gewaltigen transkontinentalen U-Booten der Gegenwart. Neben den Maschinenräumen gab es zwei Kammern für die Laborgeräte, den Besprechungsraum, welcher direkt an das Cockpit angeschlossen war, und die Schlafkammern. Die Schlafkammern waren winzig, meist musste man sich bücken, wenn man sie betrat.

Als hätten die Ingenieure Tetris gespielt, als sie die Herold II entwarfen, waren sie überall zwischengeschoben, wo noch Platz war.

 

Emilia nahm eine Beruhigungspille, als sie sich in ihre Nische legte. Es roch furchtbar nach Metall hier unten.
Ihr Kopf kreiste immer wieder um die Vorstellung, dass sie in einer stählernen Kugel tief in den Helgoländer Brunnen sank, zusammengerollt in einer Schlafnische, die nur eine Handbreit über ihrer Stirn endete. Sie sank in einen traumlosen Schlaf.

 

Ihr Handywecker klingelte mit Waldgeräuschen und entriss sie aus dem künstlichen Dämmerschlaf. Ihr Rücken, ihre Arme, aber vor allem ihr Nacken schmerzte verspannt. 40 Stunden auf so einer verdammten Pritsche liegen, das hatten Sie ihr erst erzählt, nachdem sie für die Mission zugesagt hatte.

Emilia kroch aus der Nische und streckte sich ein paar Minuten. Kampmann sah sie nirgens. Doch etwas war anders: Der vorher fast völlig dunkle Schlafabteil, in dem nur der grüne Schein der Notfallschalter zu sehen war, war nun von orangem Licht erfüllt.

 

Teil 4: Das Leuchten

 

Emilia ging aufgeregt zurück zum Kontrollraum.

Dort saß Falk immer noch genauso, wie sie ihn zurückgelassen hatte, und überprüfte jede Anzeige.

 

Trotz der durch die dicken, orangefarben getönten Spezialscheiben gefilterten Helligkeit musste Emilia sofort ihre zusätzliche, dunkle Schutzbrille aufsetzen. Sie kramte sie, immer noch mit halb tauben Fingern vom langen Schlaf, aus ihrer Kitteltasche. Sie waren eine notwendige Vorsichtsmaßnahme gegen die blendende Aura, die aus der Tiefe emporstrahlte.

 

“Gut geschlafen, Frau Schmidt?”, raunte Falk, ohne sich umzusehen.

 

“Kann man nicht wirklich sagen”, antwortete sie. 

 

Falk lachte abfällig, aber das war Emilia egal. Sie war ganz und gar verzaubert durch das schillernde Treiben vor der Scheibe. Das tiefblaue Schwarz des Meeres war ganz und gar verschwunden. Im Gegenteil: Hätte sie es nicht besser gewusst, hätte Emilia sich eher im Inneren eines Sterns vermutet. Hell leuchtend glitten sie langsam durch das dickflüssige Plasma des Brunnenbodens. Es war durchzogen von grellweißen Linien, die zu pulsieren schienen. Ein marmoriertes, glühendes Meer.

 

“Wissen Sie, wie viele Forscher zahllose Nächte durchgearbeitet haben, um die HEROLD II zu konstruieren?”, fragte Falk, “nur damit Sie jetzt diesen Anblick genießen dürfen.”

 

“Und Forscherinnen”, fügte Emilia hinzu. Sie kannte vier Frauen, die am Projekt mitgearbeitet hatten, persönlich.

 

Falk schnaubte nur amüsiert. Er ließ den Screen vor ihm nicht aus den Augen, doch Emilia konnte nicht erkennen, was er darauf machte.

 

Die Öffentlichkeit wusste vom Leuchten nicht viel. Mehr oder weniger war den Menschen bekannt, dass es am Boden des Brunnens leuchtete. Das passte zur allgemeinen, aber inkorrekten Vorstellung eines Tiefsee-Vulkans: leuchtendes Magma unter Wasser. 

Die Wissenschaft stritt sich noch immer über das Leuchten. Es trat nur in den inneren 20 Kilometern des Brunnens auf und nur ab einer Tiefe von ungefähr 10 Kilometern. 

Die Brunnenmauern waren etwa 3 Kilometer tief, an ihrer tiefsten Stelle. Von dort aus bildete sich ein 100 Kilometer breiter Trichter aus, dessen tiefste Stelle noch nicht erreicht wurde. Sonden hatten bestätigt, dass es bis zu einer Tiefe von 60 Kilometern sicher sei, für ein U-Boot wie die Herold II.

 

Die Turbinen des U-Bootes dröhnten und liefen auf Höchstleistung. Emilia nahm an ihrem Screen am Kontrolltisch Platz, um einige Scans und Messungen laufen zu lassen.

 

“Die Turbinen sind am Rande ihrer Kapazität und wir schaffen nur noch einen halben Meter pro Sekunde?”, fragte sie etwas verwirrt.

 

“Joghurt”, sagte Falk, “das glühende Plasma ist dick wie Joghurt, vielleicht sogar noch etwas viskoser.”

 

Er drehte sich zu ihr, seine stechenden Augen verdeckt durch die dunkle Schutzbrille. Im orangen Licht sah seine Haut aus wie Plastik. Falk lächelte, die Zähne gefletscht und kurz davor, etwas zu sagen, doch dann kicherte er nur und schüttelte den Kopf. Wortlos wandte er sich wieder dem Monitor zu.

 

In den folgenden Stunden sammelten sie eine ganze Menge Daten. Eine kleine, stark gekühlte Pumpe brachte eine geringe Menge an “Leuchtjoghurt”, wie die Crew die Substanz nannte, ins Innere der HEROLD II, durch die Hitzeschilde. Natürlich war die gesamte Kapsel, in der dies stattfand, komplett vom Rest des U-Bootes abgeschirmt. Wie eine kleine Telefonzelle an der Wand stand sie, man konnte die Arme durch in die Scheibe eingelassene Spezialhandschuhe stecken, um mit den Proben in der Kammer zu hantieren.

 

Emilia ließ ein Genomscreening durchführen.


“Am ehesten verwandt mit Pilzen oder Flechten”, sagte Emilia schlussendlich zu Falk, nachdem sie ihm ihre Analyse präsentiert hatte.

 

“Komplexes Genom?”, fragte Falk neutral.

“Nein, eher relativ primitiv.”

“Irgendeine Ahnung, woher es die Energie nimmt, eine so enorme Hitze zu erzeugen?”

“Ich denke, es erzeugt die Hitze gar nicht”, sagte Emilia, “Wir haben es unter Strom gesetzt. Es ist sehr leitfähig. Es reicht fast an unsere Carbon-Supraleiter heran. Vermutlich leitet es die Hitze von tieferen Erdschichten nach oben. Nun da es vom Rest des Joghurts getrennt ist, leuchtet es auch nicht mehr und es ist auch völlig ausgekühlt.”

Falk drehte sich weg und guckte auf die Scheiben. Er sagte nichts dazu.

“Transparenz zu BRANDT Screening”, rief Falk im Befehlston, und der technische Leiter änderte die Anzeige der Smart-Windows. 

 

Bei dem Namen “BRANDT” schlug Emilias Herz schneller. Das war ihre Scanner-Technologie.

 

Die scheinbar mehr als einen Meter dicken Scheiben waren viel mehr als schnödes Glas. Sie wurden von Glasfasern durchzogen, fähig auch als Display zu fungieren. Von außen ließen sie sich mit Stahlklappen abschirmen.

 

Endlich verschwand der gleißende orangerote Schimmer und machte einem verworrenen Bild aus blauschwarzen Linien Platz. Für einen Moment wirkte es, als wäre das U-Boot umgeben von zahllosen Schnüren, die kilometerlang im tiefen Wasser umherwaberten.

Emilia nahm ihre Schutzbrille ab, genau wie Falk.

“Was denken sie hier zu sehen?”, fragte Emilia, während sie Falk von der Seite ansah.

Seine Augen waren gerötet und unter der Brille geschwollen und tränig. Unter ihnen hingen dicke, dunkle Augenringe. 

Falk schien nicht geschlafen zu haben. Und auf ihre Fragen antwortete er spärlich.

Was wusste er, das sie nicht wusste?

Wieso war sie hier?

War das nicht eigentlich das Fachgebiet von Biochemikern?

“Kampmann”, rief er plötzlich und ließ den Informatiker nach vorne kommen und antreten.

“Warten sie ab”, sagte Falk amüsiert zu Emilia, “wir haben die ganzen Sensoren nicht umsonst hierunter geschleppt.”

Emilia starrte ihn an.

Falk wirkte hier unten wie aus der Zeit gefallen.

Durch die Screens der Fenster war nur ein undurchdringliches Geflecht zu sehen, was dem Schub des Bootes Platz machte. Es erinnerte sie tatsächlich an Myzel oder auch an Adern, jedenfalls wirkte es biologisch.

Dann kam Kampmann zu ihnen.

Er war spindeldürr und seine blasse Haut schien fahl im blauen Licht. Er schien nicht geschlafen zu haben, genau wie…

“Schalten sie endlich ihr Gerät ein”, rief Falk, “aber Dalli.“

Kampmann nickte und griff an Emilia vorbei zum zweiten Bordcomputer.

Kurz darauf verschwand Kampmann wieder.

Es dauerte einen Moment, aber dann verwandelte sich die Anzeige der Smart-Windows in völliges Schwarz.

Emilia war klar, was da nun lief. Ein BRAND-Scan, ohne dass man den visuellen Output eingeschaltet hatte.

Doch Emilia verstand nicht, wieso er hier vonnöten sein sollte. Sonarscanner hatten das Gebiet bereits als leer kartografiert, jedenfalls bis zu einer Tiefe von etwa 30 Kilometern. Ab da mussten sie sich auf die livegeschalteten Werte des Bordsonars verlassen.

Doch auch dort war nichts zu sehen.

Kurz darauf tauchte Kampmann wieder auf. Er schob einen kleinen Wagen, auf dem eine zwei Meter große Kabeltrommel montiert war.

Mit jedem Schritt rollte sich das Kabel, das dicker war als Emilias Oberschenkel, von der riesenhaften Rolle ab.

“Was für einen BRANDT Scanner habt ihr hier an Bord?”, staunte Emilia, während sie das Kabel fixierte.

 

“48 verschiedene Sensoren der HEROLD II senden an diesen Scanner. 20% des Schiffes bestehen aus der Maschine, sie hat sogar ihren eigenen kompakten Atomreaktor. Es ist, als könnten wir damit durch den ‚Leuchtyogurt‘ blicken, kilometerweit. Das Licht unserer Scheinwerfer durchdringt ihn nicht, vor allem da er selbst leuchtet, aber durch unsere Sensoren und den BRANDT-Scanner erlangen wir trotzdem ein Modell von dem Raum vor uns. Ganz ohne den Joghurt. Wir müssen dem digitalen, dreidimensionalen Raum nur ein künstliches Licht hinzufügen.”

Falk fixierte sie. Wieder grinste er breit, seine Zähne aufeinander gepresst.

“Ich weiß wie meine eigene Technologie funktioniert”, antwortete Emilia.

“Wie weit kann der Scanner blicken?”.

Falk schwieg.

Dann, einen seltsam langen Moment später, räusperte er sich.

“Würden sie den Scanner oben auf Helgoland platzieren und durch ihn hindurch blicken, sie könnten in das Wohnzimmer einer Familie in Kalifornien hineinsehen und nachschauen, welchen Film sie gerade gucken.”

Emilia war sprachlos.

Solch eine Technologie war ein wahr gewordener laplacescher Dämon. 

Ein übermächtiges Überwachungsinstrument, geschaffen, um der Menschheit den letzten Winkel der Privatsphäre zu rauben.

Ihr Magen zog sich schlagartig zusammen.

“Wer hat gestattet, so etwas zu bauen? Wieso wurde ich nicht informiert? In so einem Maßstab einen BRANDT-Scanner einzusetzen, verstößt gegen das Völkerrecht…”, begann Emilia, aber Falk hob beschwichtigend seine Hände.

Er öffnete eine der metallischen Schubladen am Pult und reichte ihr eine graue, unscheinbare Mappe.

 

Teil 5: UN RESOLUTION BR_04_38

 

Emilia hatte aufmerksam gelesen. Die Vereinten Nationen, besser gesagt ihre Staatsoberhäupter, hatten diese Resolution in einem streng vertraulichen Meeting einstimmig beschlossen. In dieser Resolution verboten sie alle BRANDT-Scanner die mit einer Wattzahl von über 15000 ausgestattet waren, sowie deren Herstellung oder die Forschung zur Leistungsoptimierung von Niedrigwatt-Scannern. Jedoch gab es eine Ausnahme.

 

“Abschnitt K…”, sagte Emilia. Ihre Augen rasten auf den Seiten der Resolution hin und her.

 

“Die einzige Ausnahme bietet der „Brunnen“ vor Helgolands Küste. Zur Erforschung des Brunnenmeeres wird sämtliche Technologie, die der Menschheit zur Verfügung steht, legalisiert”, zitierte Falk den Beginn des Abschnittes.

Emilia sah zu ihm.

Im blauen Licht saß er da, vor den dicken Displayscheiben, zurückgelehnt in dem Drehstuhl vor dem Kontrollpult. Es war, als wäre der Stuhl sein zweites Rückgrat und als würde er ohne ihn zusammensacken, knochenlos und weich.

 

“Sie wissen doch, dass es vor der HEROLD II die HEROLD I gab, oder?”, fragte Falk sie daraufhin.

Er starrte ihr mit seinen aufgerissenen, roten Augen direkt in die Seele. Nicht die Spur eines Blinzelns oder Zuckens.

Emilia nickte.

“Was denken sie wieso? Wieso sind wir hier?”, fragte er.

“Wir haben deutlich mehr Messinstrumente und Sensoren. Nicht zu vergessen dieses abscheuliche Spionagegerät, das sie aus meiner Forschung geschaffen haben. Und die Kühldruck-Pumpe, mit der wir eine Probe der Substanz nehmen konnten”, sagte sie verwirrt.

Worauf wollte er hinaus?

Er ließ mit seinem strengen Blick von ihr ab.

“Kampmann und ich waren die einzige Besatzung der HEROLD I”, sagte er dann und rieb sich die geschwollenen Augen mit den Händen.

“Das Schiff ist jetzt wesentlich leistungsstärker…”, begann Emilia erneut.

“Ja, das stimmt. Aber wir brauchten auch Sie, Frau Schmidt. Sie,  eine der fähigsten Forscherinnen auf ihrem Gebiet, weltweit geachtet durch Ihren bahnbrechenden Scanner. Sie wurden in Ihrer Sicherheitseinstufung als ‘fast schon pedantisch rational und professionell’ beschrieben”, erklärte Falk.

 

Seine plötzliche Nettigkeit machte ihr seltsamerweise noch mehr Angst als sein bisheriges Verhalten.

 

“Wir brauchen ihr Prestige. Sie wissen es noch nicht, aber das Nobelpreiskomitee wird sich bald bei Ihnen melden. Und Daten sind heute nicht alles. Wir brauchen jemanden, der sie präsentiert. Eine renommierte Wissenschaftlerin, wie Sie, die überprüfen wird, ob alles korrekt abläuft. Die Verantwortung übernimmt. Kontrollieren Sie bitte alle Sensoren und Instrumente auf ihre Genauigkeit. Und dann wird Kampmann ihnen den Aufbau des Giga-BRANDTs erklären. Der Code war aufwendig zu schreiben und der maschinelle Aufbau ist etwas anders, aber wird für sie sicherlich nach der Erklärung gut verständlich sein”, sagte Falk bestimmend und drehte sich wieder zu seinem Monitor.

 

“Alle Sensoren? Jede Messkategorie?”, fragte Emilia schockiert, “das wird Tage dauern!”

 

“Dann dauert es eben Tage!”, zischte Falk genervt nach hinten und musste heftig husten. Seine Lunge rasselte dabei.

 

Emilia tat wie befohlen, wenn auch verängstigt. Die Smart-Windows blieben schwarz, obwohl der Scanner bereits lief. Sie spürte sogar ein leichtes Surren in der Luft, elektrische Wellen, die den umliegenden Tiefsee-Ozean durchzuckten. Dabei müssten sie dem Modell doch einfach nur eine simulierte Lichtquelle hinzufügen, dann könnten sie sehen. Doch was? Seltsam… Doch sie schob all das zur Seite und konzentrierte sich einfach auf ihre Arbeit.

 

Teil 6: Das Auge

 

Es war Tag 3 hier unten. Die HEROLD II schwamm gemächlich in einer Tiefe von etwa 30 Kilometern unter dem Meeresspiegel umher. Da bislang unklar war, wie lange der Komplettcheck aller Sensoren dauern würde, wurde auf ein weiteres Absinken vorerst verzichtet.

Emilia ging zurück zu ihrem Pult, auf dem sich bereits zahlreiche Datenblätter und Notizen stapelten. Falk blickte sie immer besonders missbilligend an, wenn er ihr Pult sah, als wollte er sagen „Und so etwas nennt sich Experte?!”. Doch es war äußerst selten, dass er überhaupt etwas sagte.

Der Rest der Mannschaft verbrachte die meiste Zeit mit Kartenspielen.

Der Sensor, den sie jetzt testeten, war der Niedrigfrequenzsensor, der Wellen mit einer enorm niedrigen Bandbreite messen konnte.

Wie bei jedem Test reichte Falk keine Simulation am Computer, sie musste einen “Tester” rausschießen. Durch eine Art Torpedo-Luke konnten bis zu zwei Meter lange Kapseln in den Joghurt abgefeuert werden. Diese entfernten sich dann mit kleinen Turbinen immer weiter von der HEROLD II. Vorher wurden sie mit langen, komplizierten Signalcodes versehen, die sie dann über die Entfernung aussendeten. Konnte der Sensor diese Codes dann über Kilometer entfernt noch korrekt empfangen, funktionierte er.

Emilia beobachtete eine der abgefeuerten Kapseln auf dem Sonar.

Swoosh, flog sie davon, durch den dichten, heißen Leuchtyogurt, der sie umgab. 

Dabei fröstelte es sie. Der Joghurt gab seine Wärme nicht an das Metall ab, besser gesagt, war er um sie herum gar nicht warm. Er verschob seine Energie an weiter entfernte Orte und isolierte damit das U-Boot. Wie er das machte, war unbekannt. Nur das Meer wurde von ihm erwärmt.

 

Es dauerte 7 Tage, bis alle Sensoren ausführlichst überprüft waren. Sie erinnerte sich kaum noch daran, wie saubere Luft schmeckte.

 

Emilia lehnte sich zurück, ihre Schultern entspannten sich endlich wieder ein bisschen. Ein Blick zu Falk, der sich still neben sie gestellt hatte, bestätigte ihren Erfolg. Wie ein Geist hatte er sich angeschlichen. Seine Anerkennung war stumm, doch in seinen Augen lag ein Funke der Bewunderung für ihre Genauigkeit. Er nickte ihr zu.

Ordnung und Genauigkeit waren Werte, die sie beide teilten.

Jeder einzelne Sensor war getestet. Von 48 Sensoren hatten 45 auf Anhieb korrekt funktioniert, drei hatten manuell nachkalibriert werden müssen.

Der größte aller BRANDT-Scanner war einsatzbereit. Nun war es ihnen möglich, bis in den tiefsten Kern der Erde zu blicken.

 

Zusammen gingen sie zurück zum Kontrollpult mit den schwarzen Fenstern, auf deren Screens nichts angezeigt wurde. 

 

“Schalten Sie es ein, das künstliche Licht”, sagte Falk.

 

Emilia merkte, wie müde auch er war. Wenig von seiner autoritären Strenge lag noch in seiner Stimme. Was sie die ganze Zeit nicht begriffen hatte, war, was das künstliche Licht bringen sollte. Sicher, wenn sie einen leeren Raum gescannt hätten, in dem sich ein kleiner Gegenstand befände, dann hätte es Sinn gemacht. Das Licht hätte das digitale Abbild des Raumes erhellt und aufgezeigt, wo sich der Gegenstand befände. Aber sie waren von einer dicken Masse umgeben. Sie würde auch auf dem BRANDT-Scan erscheinen und das Licht sofort verschlucken. Man könnte natürlich den „Leuchtjoghurt“ aus dem Scan ausschließen und sehen, was dahinter liegt. Vermutlich Magma und geschmolzene Metalle. Wollten sie jediglich herausfinden, wie tief der Brunnen wirklich war? Gab es vielleicht in China oder in den Staaten noch ein Brunnenprojekt und am Ende sollte das hier nichts anderes sein als ein internationales “Wer hat den Längsten?”

 

Als würde man mit einer hellen Taschenlampe in einen dunklen, langen Flur leuchten, eröffnete sich vor ihnen ein Abbild dessen, was vor ihnen lag.

 

Und dann, in einem Moment, der sich wie eine Ewigkeit anfühlte, geschah es: Direkt vor der Kommandozentrale, durch die meterdicken Spezialscheiben hindurch, erblickte Emilia ein hunderte Kilometer weit entferntes Gebilde. Unzählige Schichten “Leuchtjoghurt” waren ausgeblendet. Sie brauchte einen Moment zu verstehen.

Die Maserung, die Falten, sie erkannte es.

“Ist das Haut? Sind das Schuppen?”, fragte sie verwirrt.

Sie überprüfte die Daten.

Das Modell war schon auf das Zehnfache digital vergrößert.

“Das ist über tausend Kilometer von uns weg?”, fragte sie.

Falk blieb stumm.

Er schien zu zittern.

Dann erkannte sie es. Seine Umrisse. Es war ein geschlossenes Auge. 

Stille erfüllte den Raum.

Doch die Ruhe war trügerisch.

 

Plötzlich erbebte der Boden unter ihnen, ein sanftes Grollen, das sich rasch zu einem mächtigen Beben steigerte. Die ganze HEROLD II wurde durchgeschüttelt. Die Monitore flackerten, Alarme heulten auf, und Emilia spürte, wie ihr das Herz in die Kehle schoss. Fest biss sie ihre Zähne zusammen, sodass es weh tat. Sonst hätte sie sich übergeben. 

Was zur Hölle war das?

Sie blickte zu Falk, der einfach nur stumm durch die Fenster in die Ferne blickte.

 

Es öffnete sich.

 

Es war ein Anblick, der Stunden zu dauern schien, dabei geschah alles sehr rasch. Vor ihnen lag ein Auge so groß, dass seine Pupille allein größer erschien als der Mond am Himmel. Ein schwarzes Loch, ein Blick in die Seele der Erde.

 

Emilia versuchte zu begreifen, was sie da sah, denn es konnte unmöglich ein Lebewesen sein. Das konnte nicht sein. Es durfte nicht sein. Um die Pupille herum befand sich eine Iris, deren Farbe die BRANDT-Scanner nicht genau darstellen konnten. Wie ein schimmernder Ozean aus Regenbogenfarben, mit strömenden hellen Flüssen, sah sie aus. Umgeben wurde die Iris von einem endlosen Weiß, das die komplette Anzeige bedeckte und unendlich darüber hinaus zu gehen schien.

Ihr gesamtes Blickfeld wurde davon erfüllt, vergleichbar war damit nur der blaue Himmel, den man rund um sich herum sah, wenn man auf einem Berg stand.

In diesem Augenblick stand Emilia vor einer Präsenz, die jegliches menschliche Verständnis überstieg. Sie war sich sicher, das Wesen, das vor ihnen lag, war ein Relikt aus einer Zeit, lange bevor der erste Mensch auf diesem Planeten wandelte, eine Kreatur so alt wie die Erde selbst. Es war, als stünde sie vor Gott selbst, einem Gott, der in der Dunkelheit schlief, verborgen unter der Erdoberfläche, unter Helgolands Brunnen, in einem leuchtenden Meer.

 

Und sie, davor nur eine Ameise, eine Amöbe, winzig und unbedeutend. Dann verlor sie das Bewusstsein.

Emilia erwachte und war überrascht, dass sie stand. Sie stand mitten auf einer schier unendlich großen Ebene aus tonähnlicher Erde. Der Horizont war weit entfernt, doch konnte sie am tieftürkisen Himmel dort einige Gewitterwolken ausmachen. Das seltsamste jedoch waren die Säulen, die die ganze Ebene überzogen.

 

Riesenhafte Obelisken in hellen Erdtönen, manche auch völlig in weiß, standen überall verteilt auf der Ebene. Sie sahen nicht menschengemacht aus, eher natürlich. Emilia machte ein paar Schritte auf den Nächsten zu und nahm ihn genauer in Augenschein.

Aus der Nähe ließen sich feine Rillen in seiner Oberfläche ausmachen. Sie war sich sicher: das war ein Pilz.

Oben wurde er etwas dicker, sicher würde er noch seine Lamellen aufbrechen und seinen Hut ausbreiten. Doch solch große Pilze gibt es auf der Erde schon lange nicht mehr. Der hier war mindestens 4 Meter hoch, andere sogar noch höher.

Wo war sie?

 

Schlagartig wachte sie wieder auf. Blitzschnell wurde sie zurück in die Situation gerissen. Hatte sie wirklich das Bewusstsein verloren? Durch die Displayscheiben betrachtete sie immer noch das Auge der Erde.

 

Während sie das Auge betrachtete, das sich nun langsam wieder schloss, als hätte die Kreatur sie nur für einen flüchtigen Moment wahrgenommen, wenn überhaupt, spürte Emilia eine tiefe Demut. Schweiß rann kalt ihren Rücken hinunter.

 

Das Beben legte sich, und die Stille kehrte zurück.. Sie hatte in das Auge einer Gottheit geblickt, vor der sie nicht mehr waren als winzige Fische in leuchtender Substanz. Es hatte in ihre Seele geblickt und ihnen erlaubt, noch etwas länger zu leben. Und sie war sich sicher, es hatte ihr etwas gezeigt …

Sie sah panisch zu Falk. Doch dieser schien auf einmal völlig ruhig. 

Er sah zu ihr und lächelte. Nicht mehr so bedrohlich und durchdrungen wie zuvor, sondern sanft.

“Hat es uns gesehen? ES hat sich geöffnet! Ich meine, das… was war das?”, fragte sie, ihre Stimme brüchig.

“Irgendwie scheint es gemerkt zu haben, dass WIR es jetzt sehen”, antwortete er.

“Wissen Sie, um was es sich dabei handelt?”, fragte sie lautstark.

Falk schüttelte den Kopf.

“Unsere Daten haben uns bei der ersten Mission bereits Hinweise gegeben…”, begann er.

“Hinweise?! Darauf, dass ein uraltes Wesen unter der Erdkruste lebt?”, rief sie.

“Wir gehen nicht davon aus, dass diese Umgebung sein eigentlicher Lebensraum ist.”

“Die Substanz… der Leuchtjoghurt”, stammelte Emilia verwirrt.

“Dotter”, sagte Falk ruhig.

Völlige Stille durchflutete den Raum.

“Keine Panik”, führte er schmunzelnd fort, “es kann uns nicht gesehen haben. Nicht wirklich. Nicht mit den Augen. Wir haben ja auch nur ein Abbild durch die Computer gesehen. Kein Licht durchdringt den leuchtenden Dotter.”

Dotter?

Emilia brauchte einen Moment.

“Es kann uns nicht sehen? Aber es hat ein Auge?”, fragte sie zitternd.

“Und was heißt das?”, fragte Falk ermutigend, als spräche er mit einem Kind.

Emilia sagte nichts.

Kein Wort konnte sie über ihre Lippen bringen.

“Küken, die im Ei heranwachsen haben auch Augen”, flüsterte er ihr zu und klopfte ihr schwach auf die Schulter.

Sie verstand, was er meinte.

Wie konnte er nur Lächeln?

Er ging an ihr vorbei, anscheinend ging er zu den Schlafkapseln.

Leise hörte sie ihn murmeln.

“Dotter. Kein Joghurt. Dotter”, sagte er mehr zu sich selbst, bevor er in seine Nische kroch.

 

Von tiefer Stille umfangen kauerte Emilia auf dem stählernen Boden, hunderte Kilometer vor ihr war immer noch das geschlossene Auge zu sehen. Sie konnte sich nicht aufrichten, es schien, als bewege sich der Boden unter ihr. Und auch Wochen später, lange nach ihrer Rückkehr an die Oberfläche: Der Boden unter ihren Füßen schien nie mehr wirklich stillzustehen.